Die Regierung des Virus

Um gut mit der Pandemie umzugehen, ist sowohl fundiertes Wissen über das Virus – seine Biologie, seine Epidemiologie – gefragt, wie auch über die Kosten und Folgen von sozialer Distanzierung, Grenzschließung, Überwachung, Ausgangssperren und Schul- und Kitaschließungen. Über beides wissen wir immer mehr. Und doch, es ist noch immer relativ wenig. Wir befinden uns in einem Experimentiermodus – ob wir wollen oder nicht.
Während sich weiterhin auf allen Ebenen moralischer und politischer Druck entlädt, ist die politische und wissenschaftliche Auseinandersetzung diverser geworden. In diesem Spannungsfeld wird recht deutlich zu Tage befördert, welche Kriterien für „gutes Regieren“ bereitstehen und welche Vorstellungen von sozialer und globaler Ordnung besonders schnell zu Hand sind. Wer sich die Seuchengeschichte des 19. Jahrhunderts heranzieht, erkennt, zumindest was die zirkulierenden politischen Rationalitäten betrifft, so manches wieder.

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Corona und soziale Reproduktion im Kapitalismus

Den Gesundheits- und Pflegeberufen werden in der aktuellen Corona-Krise viel Solidarität und Anerkennung entgegengebracht – zumindest rhetorisch. Bei den so genannten systemrelevanten Berufen wird dessen mangelnde Bezahlung und fehlende Ausstattung auf einmal breit thematisiert. Der aktuelle Diskurs um die Ausbreitung von COVID 19 und dessen gesundheitspolitische Folgen macht besonders deutlich, wer sich um unsere Gesundheit und Versorgung kümmert und damit das gesellschaftliche und menschliche Leben aufrechterhält. Zu über 80 Prozent arbeiten Frauen in ‚systemrelevanten‘ Berufen. Diese Berufe sind aber gleichzeitig schlecht bezahlt, haben prekäre Arbeitsbedingungen und sind von Überlastungen und Personalmangel gekennzeichnet. Das ist keinesfalls neu. Die Krise der sozialen Reproduktion und ihre sozialen und geschlechtsspezifischen Auswirkungen werden schon lange von feministischen Politikwissenschaftlerinnen, Ökonominnen und Aktivistinnen diskutiert und kritisiert. Nun werden diese feministischen Themen und Anliegen, Corona sei Dank, erstmals öffentlich anerkannt und breit diskutiert.

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Mehr Frauen*stimmen braucht die Welt!

Über den Osten und was ich als Politologin an Fragen in das neue Jahrzehnt mitnehme.

Als Politologin, die sich in ihrem Denken und Schaffen allein der einen offenen Welt für alle Menschen verpflichtet sieht, widmete ich mich in diesem Jahr 2019 dem spannenden Betätigungsfeld der Aufarbeitung des demokratischen Aufbruchs des Herbst 1989 in der DDR und den darauf folgenden Auf-, Zusammen-, und Umbruchserfahrungen in Ost und West.

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Für ein neues Paradigma der Verbundenheit

Die multiplen Krisen, die wir in unseren Gesellschaften sehen, sind meines Erachtens ein Zeichen dafür, dass hier gerade etwas zu Ende geht. Dass viele Menschen sich orientierungslos, ausgebrannt, süchtig, und sinnentleert fühlen – oder sich mit eine Vielzahl an Coping-Strategien von diesen Gefühlen abzulenken versuchen – zeigt, dass die alten Erzählungen davon, wer wir sind, und was unsere Aufgaben sind, zunehmend weniger an Kraft und Orientierung geben.

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Wenn die Verhältnisse unantastbar erscheinen – Feminismus zwischen Selbstermächtigung und kollektiver Praxis

von Lisa Yashodhara Haller, Friederike Beier und Lea Haneberg

Wir leben in Zeiten, in denen sich das, was man gemeinhin als kapitalistische Verwertungslogik begreift, nahezu vollständig verallgemeinert hat. Nicht nur unsere Arbeitsprozesse rationalisieren wir nach Maßstäben der Effizienz, was seltsam genug ist. Darüber hinaus fällt uns eine Grenzziehung zum Privaten oft schwer. Freundinnen, Familie, Politik und Arbeit bilden das moderne Konglomerat der Selbstverwirklichung und versprechen Glück – sofern wir es schaffen, alle Bereiche ausreichend zu bedienen, also effizient zu koordinieren und zu gestalten. Damit sind wir sehr beschäftigt und schimpfen gleichzeitig über unser Wirtschaftssystem, den Kapitalismus, der uns all das antut. Die Kritik am Kapitalismus scheint zeitgemäß, sie ist alltäglich und allgemein akzeptiert. Wir kritisieren ihn beim Pizzaessen in der Mittagspause, wir lesen zwischendrin darüber in den Social Media, diskutieren abends beim OKCupid-Date oder morgens bei der Vorlesung an der Universität. Wie das Reden übers Wetter ist Kapitalismuskritik ein unverfängliches Gesprächsthema. Und wie das Wetter erscheint die kapitalistische Verwertungslogik als vernünftigstes Organisationsprinzip aller Lebensbereiche ohnehin unantastbar. Je weniger aber die ökonomischen Verhältnisse gestaltbar erscheinen, desto wichtiger wird die Bestätigung der eigenen Handlungsfähigkeit im Angesicht der scheinbar überwältigenden Ohnmacht gegenüber den größeren Zusammenhängen. Die eigene Identität ist hier ein beliebtes Betätigungsfeld, sie ist zentraler Ausdruck unserer Handlungsmacht in einer Welt, in der das große Ganze unantastbar erscheint. In der Sphäre grenzenloser Selbstentfaltung, ‑verwirklichung und ‑optimierung wird sie erprobt.  Hier sind wir vermeintlich frei – niemand scheint uns vorzuschreiben, wie wir unser Selbst formen, so lange es im Rahmen der kapitalistischen Verwertbarkeit bleibt. So können wir ganz frei und individuell belastbar, flexibel, resilient, gesund und schön sein.

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