Wenn die Verhältnisse unantastbar erscheinen – Feminismus zwischen Selbstermächtigung und kollektiver Praxis

von Lisa Yashodhara Haller, Friederike Beier und Lea Haneberg

Wir leben in Zeiten, in denen sich das, was man gemeinhin als kapitalistische Verwertungslogik begreift, nahezu vollständig verallgemeinert hat. Nicht nur unsere Arbeitsprozesse rationalisieren wir nach Maßstäben der Effizienz, was seltsam genug ist. Darüber hinaus fällt uns eine Grenzziehung zum Privaten oft schwer. Freundinnen, Familie, Politik und Arbeit bilden das moderne Konglomerat der Selbstverwirklichung und versprechen Glück – sofern wir es schaffen, alle Bereiche ausreichend zu bedienen, also effizient zu koordinieren und zu gestalten. Damit sind wir sehr beschäftigt und schimpfen gleichzeitig über unser Wirtschaftssystem, den Kapitalismus, der uns all das antut. Die Kritik am Kapitalismus scheint zeitgemäß, sie ist alltäglich und allgemein akzeptiert. Wir kritisieren ihn beim Pizzaessen in der Mittagspause, wir lesen zwischendrin darüber in den Social Media, diskutieren abends beim OKCupid-Date oder morgens bei der Vorlesung an der Universität. Wie das Reden übers Wetter ist Kapitalismuskritik ein unverfängliches Gesprächsthema. Und wie das Wetter erscheint die kapitalistische Verwertungslogik als vernünftigstes Organisationsprinzip aller Lebensbereiche ohnehin unantastbar. Je weniger aber die ökonomischen Verhältnisse gestaltbar erscheinen, desto wichtiger wird die Bestätigung der eigenen Handlungsfähigkeit im Angesicht der scheinbar überwältigenden Ohnmacht gegenüber den größeren Zusammenhängen. Die eigene Identität ist hier ein beliebtes Betätigungsfeld, sie ist zentraler Ausdruck unserer Handlungsmacht in einer Welt, in der das große Ganze unantastbar erscheint. In der Sphäre grenzenloser Selbstentfaltung, ‑verwirklichung und ‑optimierung wird sie erprobt.  Hier sind wir vermeintlich frei – niemand scheint uns vorzuschreiben, wie wir unser Selbst formen, so lange es im Rahmen der kapitalistischen Verwertbarkeit bleibt. So können wir ganz frei und individuell belastbar, flexibel, resilient, gesund und schön sein.

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